05. Juli 2021

Weltflüchtlingstag: Verfolgung und Vertreibung damals und heute

Senioren im Pflegeheim erinnern sich

Bitterkalt sei es gewesen, sagt Margarete Reiter. „Minus 21  Grad. Die Straßen waren so vereist, dass die Pferde vor dem Wagen keinen Halt finden konnten." Immer wieder stürzen sie. Januar 1945 in Niederschlesien: Margarete Reiter ist zu der Zeit ein junges Mädchen, heißt damals noch Runge mit Nachnamen. 15 Jahre alt ist sie, als sie Abschied nehmen muss von ihrem vertrauten Leben. Vor wenigen Tagen hat die Familie noch die Goldene Hochzeit der Großeltern gefeiert, jetzt packen alle mit an und verstauen auf dem Pferdewagen, was unbedingt mit muss. Ihre Mutter sei von einer Versammlung im Dorf zurückgekommen, erinnert sich Margarete Reiter. „Wir müssen sofort weg", habe sie gesagt. Die Rote Armee ist auf dem Vormarsch. Die Familie flieht, lässt Hof, Dorf und Heimat zurück.

 

Für den Termin mit dem WESER-KURIER muss sich Margarete Reiter nicht vorbereiten. Sie hat die wichtigsten Namen, Zahlen und Daten alle im Kopf. Drei Bücher hat sie herausgesucht, alle von ihr geschrieben, jedes bestimmt 100 Seiten dick. „Krieg und Frieden" heißt eines, „Daheim" ein anderes. Aufgeschlagen daneben liegt auf dem Tisch die Schlesische Heimatzeitung. Aktuelle Ausgabe 06/2021.

 

Das großformatige Heft erscheint einmal im Monat und enthält Geburtstagsgrüße und Terminhinweise, Erinnerungen an Verstorbene und an die alte Heimat Niederschlesien mit seiner wechselvollen Geschichte, einst böhmisch, dann preußisch, seit 1945 polnisch. Margarete Reiter ist Abonnentin. Auf einer Doppelseite hat die Redaktion einen Text von ihr veröffentlicht. „Das Leben im Krieg und danach" lautet der Titel. Der Text sei leider gekürzt worden, sagt sie. Mehrere Seiten hatte sie geschickt, es gibt ja so viel zu erzählen. Aber der Platz in der Zeitung ist beschränkt.

 

Es gibt auch jetzt viel zu erzählen. Aber wo anfangen, wo aufhören? Margarete Reiter ist 91 Jahre alt. Ihr aktuelles Zuhause lässt sich leicht verorten. Sie lebt im Seniorenpflegeheim Haus am Markt in Lilienthal. Aber wo ist ihre Heimat? Geboren wird sie 1929 in Trebnitz, Niederschlesien, wächst mit zwei jüngeren Brüdern im benachbarten Örtchen Schlottau auf dem elterlichen Bauernhof auf. Mehr als 70 Jahre ihres Lebens hat sie in Bremen verbracht. Vermisst sie Schlesien? „Oh ja, und wie", sagt sie. Schlesien sei ihre Heimat, jahrzehntelang fährt sie immer wieder dorthin. Und Bremen? „Bremen ist auch Heimat."

 

Ein wenig wundert sie sich über diese Fragen. Sie scheinen ihr recht abstrakt zu sein. Sie selbst hat sich immer lieber direkt an die Menschen gehalten und im Laufe der Jahre ihre Geschichten gesammelt und aufgeschrieben. Mehr als 200 Gespräche, schätzt sie, habe sie mit Flüchtlingen, Vertriebenen und deren Angehörigen geführt. Mal in der Nachbarschaft, mal auf der Arbeit und einmal sogar in einem Flugzeug, hoch oben über den Wolken, mit ihrem Sitznachbarn, den sie bis dahin gar nicht kannte.

 

Nun erzählt sie ihre eigene Geschichte weiter; davon, wie voll die Straßen im Januar 1945 gewesen seien mit Menschen, die weg wollten und weg mussten, weil sie, deutschsprachig und deutsch, Vergeltung befürchteten für die Gräueltaten von Nazi-Deutschland. Alte Menschen, junge Menschen, Kinder und Babys. Margarete Reiter erzählt von verlassenen Dörfern, leeren Höfen, von Kälte und Hunger, vom Kampf ums Überleben, den nicht jeder gewinnt. Nach mehreren Wochen endet die Flucht. „Mit vorgehaltener Pistole", sagt Margarete Reiter, seien sie von russischen Soldaten gezwungen worden, nach Schlottau zurückzukehren.

 

Jetzt schlägt Margarete Reiter eines ihrer Bücher auf. Sie sucht nach einem ganz bestimmten Familienfoto. Irgendwann findet sie es. Es ist ein Bild aus glücklicheren Tagen. Februar 1938. Die Hochzeit ihres Onkels. Fast 30 Menschen sind auf dem Foto zu sehen, vier Generationen. Alle sind feierlich gekleidet und blicken freundlich in die Kamera; sie selbst, die Braut und der Bräutigam, Großeltern, Eltern, Nachbarn.

 

Margarete Reiter fährt mit der Lupe über das Foto, ihre Sehkraft lässt nach. Gleich bei der zweiten Person bleibt ihr Finger hängen. Onkel Karl, 1941 gefallen in Chorol/Ukraine. In der zweiten Reihe tippt sie auf ein weiteres Gesicht. Onkel Paul, auch er lässt sein Leben auf dem Schlachtfeld in der Ukraine, im Januar 1942 in Dnjepropetrowsk. Sein Grab macht Margarete Reiter 1998 ausfindig und besucht es. Vier Brüder wird ihre Mutter verloren haben, ehe der Krieg zu Ende ist.

 

Bis die Familie Schlesien tatsächlich verlässt, vergehen einige Jahre. Mehrfach sei die Familie ausgewiesen worden. Ihre Eltern seien abgeholt worden für Arbeitsdienste, sie selbst sei in einer polnischen Familie als Hausmädchen untergekommen, erzählt Margarete Reiter. Erst im Februar 1948 verlässt sie Schlesien, allein. In einer „Nacht-und-Nebel-Aktion" sei sie „abgehauen". Mit dem Bus bis Görlitz und dann mit dem Zug über Köthen bis Magdeburg. Unterwegs lernt sie einen Mann kennen, der ihr erzählt, dass er alle vier Wochen nach Bremerhaven fahre, um dort Fisch einzukaufen. Er gibt ihr den Tipp, in Bremen auszusteigen und zum Bunker am Bahnhof zu gehen. Dort kümmert sich die Innere Mission um sie.

 

Auch über ihre Bremer Jahre hat Margarete Reiter Buch geführt. Sie geht jetzt zu ihrem Computer und lädt Dateien hoch. Es sind Dutzende. Sie erzählt weiter: Im August 1949 heiratet sie. Als sie ihren Zukünftigen kennenlernt, arbeiten sie beide in der Landwirtschaft. „Morgens zum Melken, mittags zum Standesamt, abends wieder zum Melken", sagt sie. So sei das damals gewesen.

 

In der sogenannten Flüchtlingssiedlung Borgfeld bekommt das Paar 1958 als „Lastenausgleichsberechtigte" die Chance auf ein eigenes Haus. Margarete Reiter hat fein säuberlich notiert, welche Voraussetzungen zum Hauskauf notwendig waren, zum Beispiel unbescholten und verheiratet musste man sein. Der Kredit für das Haus, 20.000 D-Mark, sollte innerhalb von 25 Jahren abgezahlt werden, und beim Bau der Straßen müssen alle anpacken.

 

Einfach sei der Start in Bremen nicht gewesen, sagt Margarete Reiter. Die Stadt in Schutt und Asche, Mangel allerorten, und dann kommen auch noch sie, die Vertriebenen. Einige Bremer, so erinnert sie sich, hätten die Vertriebenen abschätzig die „Wir-hatten-Land-Leute" genannt. Da zum Hauskauf in der Flüchtlingssiedlung auch der Nachweis gehörte, zuvor in der Heimat landwirtschaftlich tätig gewesen zu sein, sagten die Vertriebenen diesen Satz sehr häufig: Wir hatten Land.

 

Zwei Töchter bekommen die Reiters. Margarete Reiter lässt sich zur Altenpflegerin ausbilden. Sie beschäftigt sich sehr mit der Familiengeschichte. Forscht, liest, sammelt und schreibt auf. Warum? Sie zuckt mit den Schultern, schwer zu sagen. „Das steckt einfach in mir drin", sagt sie schließlich. Sie schreibt nicht nur über die eigene Familie. Sie hat Dutzende weitere Geschichten zu Papier gebracht. Etwa über den ehemaligen SS-Mann aus Ostpreußen, der nach dem Krieg in einem Bremer Bauunternehmen Arbeit findet und nach Feierabend mithilft, Wohnungen für Familien zu bauen. Oder über die Frau, deren Mann mit den Erlebnissen aus dem Krieg nicht fertig wurde. „Immer hatte er getan, was man von ihm erwartet hat", sagt Margarete Reiter, „nur einmal nicht: Als er sich umgebracht hat."

 

Das Schreiben fällt Margarete Reiter zunehmend schwerer. Die Augen. Aber das Interesse am Weltgeschehen und den Menschen hat sie nicht verloren. Im Heim hat sie einen neuen Bewohner kennengelernt. 96 Jahre alt ist der Mann, ein ehemaliger Pilot, hat viel mitgemacht in seinem Leben. „Der Herr kann wunderbar erzählen", sagt Margarete Reiter, „seine Geschichte würde ich gern aufschreiben."

 

Marc Hagedorn

Weser Kurier vom 20.06.2021